Epona Talks
In den Epona Talks diskutieren wir Themen wie Tierschutz, Tierrechte, Beziehungen zwischen verschiedenen Wesen, zum Beispiel zwischen Mensch und Pferd, Natur, Umwelt, Verantwortung etc. Durch die Talks zeigen wir gerne verschiedene Aspekte auf, wie den philosophischen, zu bestimmten Themen, unter anderem 'Tierrechte', wie im Interview mit der französischen Philosophin Florence Burgat, mit dem wir beginnen. Mit der Ex-Dressurreiterin und Pferdetrainerin Johanna Wiig sprechen wir über ihr persönliches Verhältnis zu Pferden, welches in einer Welt, in der es „normal“ ist, Tiere für die eigenen Zwecke zu nutzen, ein ganz besonderes ist.
Gedanken über eine vegane Welt
Jetzt möchten wir mal ein Gedankenspiel von Merlinde Theile vorstellen. Wie wäre es komplett auf tierische Produkte zu verzichten und in einer völlig veganen Welt zu leben?
Wie sähe eine vegane Welt aus?
Wir befinden uns im Jahr 2035. Die Nutztiere sind seit über zehn Jahren abgeschafft. Das hat das Leben auf der Erde komplett verändert. Ein Gedankenspiel von Merlind Theile (DIE ZEIT Nr. 2/2021, 7. Januar 2021)
Was alles anders ist als noch im Jahr 2020? Du merkst es schon beim Aufwachen. Deine Bettdecke ist mit Lyocell gefüllt, einer Celluloseregeneratfaser aus Holz, in deinem Fall Eukalyptus. Daunen sind vom Markt verschwunden. Dein Frühstück: Kaffee mit Erbsenmilch, Brot mit Avocadoaufstrich, Joghurt aus Cashewnüssen. Keine Eier, keine Kuhmilch, keine Wurst aus toten Tieren. Denn deren Lieferanten, die sogenannten Nutztiere, gibt es nicht mehr.
Früher fing jeder deiner Tage mit ihnen an, oder besser: mit dem, was aus ihnen gewonnen wurde. Die Dusche am Morgen: Duschgel mit Kollagen aus Körpergewebe von Schweinen. In deinem Shampoo steckte Keratin aus Hörnern, Hufen, Federn, in deiner Bodylotion Elastin aus Tiersehnen. In deiner Seife: Glycerin aus Schlachtfetten. In deiner Zahnpasta: Knochenmehl. Tierisches war in fast allem zu finden, weil es so viele Nutztiere gab, weil sie so billig waren. Als sie abgeschafft waren, schwenkte die Industrie endgültig um auf pflanzliche Stoffe, aus Soja, Algen, Weizen. Du benutzt jetzt ein Sanddornduschgel, es reinigt mit Zuckertensiden. Die Hyaluronsäure in deiner Gesichtscreme wird schon lange nicht mehr aus Hahnenkämmen gewonnen, sondern aus fermentierten Rüben.
Auch der Inhalt deines Kleiderschranks hat sich verändert. Du hast zwar noch Schuhe aus Leder und Pullover aus Wolle, aber du trägst sie kaum noch, es sind Relikte der alten Zeit. Den Markt beherrschen jetzt andere Textilien, etwa aus Algen, Baumrinde, Hanf oder Kork. Schon vor Jahren hast du dir deine erste Jacke aus Piñatex gekauft, einem Material aus den Fasern von Ananasblättern, das sich anfühlt und aussieht wie Leder. Entwickelt hatte es eine spanische Forscherin, die lange in der Lederindustrie gearbeitet hatte und deren Auswirkungen auf Tiere, Arbeiter und Umwelt nicht mehr mittragen wollte. Als einer der ersten großen Modekonzerne nahm H&M Piñatex bereits 2019 in seine Kollektion auf, heute ist es Massenware. Aber es gibt auch die andere Seite. In der Textilbranche drängten nach dem Ende der Nutztierhaltung Anfang der Zwanzigerjahre die Erdölchemiekonzerne stärker auf den Markt. Statt aus Tierleder bestehen Taschen, Schuhe, Möbel oder Autositzbezüge nun häufig aus erdölbasierten Kunststoffen wie Polyvinylchlorid (PVC) oder Polyurethan.
Wenn du Lebensmittel einkaufst, stehst du vor übervollen Regalen. Allein Milchersatzgetränke findest du in deinem Supermarkt Dutzende. Die gängigsten sind aus Soja, Hafer, Dinkel, Reis, Lupinen, Mandeln, Kokosnüssen, Haselnüssen. Oder aus gelben Erbsen. Meist kaufst du diese Milch, weil sie nur ganz leicht süßlich schmeckt und viele Nährstoffe hat, über sechs Prozent Proteinanteil, doppelt so viel wie früher Kuhmilch. Joghurt und Käse stellt die Industrie aus Soja, Nüssen oder Hefekulturen her. Es gibt veganen Cheddar, Blauschimmelkäse, Mozzarella, Camembert. Das, was früher aus Milch gewonnen wurde, hatte die Esskulturen so stark geprägt, dass die meisten Menschen nicht darauf verzichten wollten. Also bauten erst Start-ups, dann große Unternehmen fast alles Essen tierischen Ursprungs aus Pflanzen nach. Selbst das Fleisch.
Knapp 60 Kilo tierische Fleisch- und Wurstwaren aß ein Deutscher noch 2019
Du erinnerst dich noch an deinen ersten veganen Burger, auf einer Gartenparty Ende der Zehnerjahre. "Auf Erbsenproteinbasis", stand auf der Verpackung, die neben dem Grill lag. Der Burger schmeckte saftig und ein bisschen nach Rauch, ähnlich einem Rindfleischburger. Er war bloß viel teurer. Wie Gold, scherzte der Gastgeber. Aber das lag daran, dass damals noch kaum jemand vegane Burger aß. Heute sind sie günstig, denn sie sind ein Massenprodukt. In den Ballungszentren der Fleischindustrie, wo früher Tiere im Akkord geschlachtet und zu Billigschnitzeln zerlegt wurden, verarbeiten die Angestellten nun Tofu und Seitan zu Würstchen, Gyros, Burgerpattys. Der Metzger, bei dem du immer einkaufst, hat sich ebenfalls neu erfunden, schon zu Zeiten der Nutztierhaltung. Er war einer der ersten, der schrittweise umstellte, von tierischem Fleisch auf Fleischersatz, alles aus pflanzlichen Zutaten. Im Kutter seiner früheren Wurstküche zermalmt er Reiswaffeln mit Wasser, Tomaten, Roter Bete und Gewürzen zu "Zwiebelmett". "Leberwurst" macht er aus Kartoffeln (Cremigkeit) und Kichererbsen (Stückigkeit). Für "Blutwurst" nimmt er schwarze Linsen. Als er noch Tiere gegessen habe, erzählte er dir mal, sei es ihm nicht gut gegangen. Berufsbedingt verschlang er Berge an Fleisch, allein schon beim Probieren in der Wurstküche. Er sei dick geworden und krank, Diabetes. Nach der Umstellung auf pflanzliches Essen habe er 45 Kilo abgenommen. Jetzt, sagt dein Metzger, gehe es ihm blendend.
Keine Tierversuche mehr
Knapp 60 Kilo tierische Fleisch- und Wurstwaren aß ein Deutscher noch 2019 im Schnitt, fast doppelt so viel wie von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung maximal empfohlen. Studien legten nahe, dass Fleisch die Menschen tatsächlich krank machen kann, Wissenschaftler führten Krebs oder Herz-Kreislauf-Probleme auf seinen Verzehr zurück (*1). Heute essen die Menschen in den Industrienationen zwar immer noch viele Fertiggerichte, und in industriellem Fleischersatz stecken oft Geschmacksverstärker, zu viel Salz und Fett. Aber grundsätzlich können Veganer gesünder leben. Laut einer Studie der Universität Oxford verhindert eine ausgewogene pflanzliche Ernährungsweise bis 2050 weltweit 8,1 Millionen Todesfälle und spart eine Billion US-Dollar an Gesundheitskosten ein. Pro Jahr (*2). Du hattest auch ein paar Malaisen, damals. Nichts Ernstes, aber lästig. Leichte Arthritis in beiden Daumengelenken. Erhöhte Cholesterinwerte. Bluthochdruck. Deine Ärztin sagt, das alles habe höchstwahrscheinlich mit deinem Fleischkonsum zu tun gehabt. Speziell Schweinefleisch enthält viel Arachidonsäure. Sie befeuert Entzündungen im Körper. Eine rein pflanzliche Ernährung ist arm an gesättigten Fettsäuren (senkt den Cholesterinspiegel) und reich an Kalium (senkt den Blutdruck). Seit du keine tierischen Lebensmittel mehr isst, sind deine Beschwerden geschwunden. Tabletten gegen das Cholesterin brauchst du nicht mehr. Zu deiner Ärztin gehst du hauptsächlich noch, um deine Blutwerte checken zu lassen, einmal im Jahr. Alles okay, sagt sie dann, auch der B₁₂-Spiegel. Sie hat dir erklärt, dass dein Körper alle Nährstoffe, die er braucht, aus einer ausgewogenen veganen Ernährung ziehen kann, auch Eisen, Kalzium und Vitamine – nur nicht das Vitamin B₁₂. Früher bekam es dein Körper aus Fleisch oder Milchprodukten. Es konnte aber auch schon damals biochemisch hergestellt werden, mithilfe von Mikroorganismen. Du schluckst eine Kapsel am Tag, und auch deren Hülle ist pflanzlich, Zellulose statt Schweinegelatine. Keine tierischen Stoffe mehr in Arzneien, das war die eine Folge des Nutztierwegfalls für die Medizin. Die andere: keine Tierversuche mehr. Anfangs kritisierten viele Wissenschaftler diesen Schritt – die sogenannte Grundlagenforschung sowie die Forschung an Nervensystemen oder Genen kämen ohne diese Experimente nicht aus. Deine Ärztin hat dir aber erzählt, dass sich immer mehr bewahrheite, was Tierversuchsgegner auch innerhalb der Ärzteschaft schon zu Zeiten der Nutztiere erklärt hatten: Ohne diese Versuche wurden immense Summen an Forschungsgeldern frei, um alternative Methoden weiterzuentwickeln, besonders Computersimulationen und sogenannte In-vitro-Systeme, Studien mit menschlichen Zell- und Gewebekulturen, die Tierversuche ersetzten. Und für Menschen in der Regel sogar nützlichere Erkenntnisse liefern als die Abertausenden Experimente mit Ratten, Affen oder Kaninchen, bei denen allein in Deutschland im Jahr 2019 rund zwei Millionen Tiere verbraucht worden waren. Alles Lebewesen, die du nie zu Gesicht bekommen hattest. Aber das traf ja auf die meisten Nutztiere zu.
2020: 20.000 Schweinebetriebe, mit 26 Millionen Tieren
Auch die in deiner Nachbarschaft hast du nie gesehen, bloß gerochen. Du wohnst im Kreis Vechta in Niedersachsen, früher ein Zentrum der Schweinehaltung, auf einen Menschen kamen hier über acht Schweine, statistisch gesehen. Sie lebten in abgeriegelten Hallen ohne Auslauf nach draußen, mitunter 10.000 Tiere in einer einzigen Anlage. Nur der Gestank ihrer Gülle erinnerte dich hin und wieder an ihre Existenz. In Deutschland gab es 2020 über 20.000 Schweinebetriebe, mit 26 Millionen Tieren insgesamt. Wenn du jetzt über die Dörfer fährst, siehst du hier und da noch verlassene Ställe. Im Zuge der Landwirtschaftswende Anfang der Zwanzigerjahre legte die Bundesregierung für die Nutztierhalter ein Ausstiegsprogramm nach niederländischem Vorbild auf. Zwölf Milliarden Euro für den Strukturwandel allein in der Schweinebranche, ein gesellschaftlicher Kraftakt, im Ansatz vergleichbar mit den Strukturhilfen für den Braunkohle-Ausstieg.
Unter Nutztierhaltern war der Protest dennoch gewaltig. Die neue Bewegung "Bauern für Tiere" (BfT) organisierte etliche Demonstrationszüge nach Berlin. Einmal durchbrachen die Landwirte mit Dutzenden Traktoren eine Polizeisperre und drangen bis zum Kanzleramt vor. Im folgenden Wasserwerfereinsatz auf der Rasenfläche vor dem Reichstag gab es zahlreiche Verletzte. Auch andernorts protestierten Bauern. In deiner Nachbarschaft und abends in der Tagesschau sahst du Viehhalter, die sich an ihren Tierställen festketteten.
Völlig menschenfreie Areale
Es gab aber auch jene, die froh waren, ihr Einkommen nicht mehr aus der Nutzung von Lebewesen beziehen zu müssen. Die Missstände der intensiven Tierhaltung, die vielen Krankheiten und Verhaltensstörungen waren evident gewesen. Viele seiner Kollegen, erzählte ein Landwirt in der Talkshow von Markus Lanz, hätten das Leid der Tiere schlicht verdrängt. Plötzlich sei da ein Mitgefühl, das die meisten sich zeit ihres Berufslebens versagt hätten. Darüber hinaus helfe ihm und seinen Kollegen natürlich auch das Geld.
Manche älteren Nutztierhalter setzten sich mit den Abschlagszahlungen zur Ruhe, die Jüngeren begannen damit etwas Neues. Ein Bekannter von dir, der früher Schweine hielt, baut jetzt Wein an, im Landkreis Osnabrück am Rand des Teutoburger Waldes. Der Klimawandel hat Norddeutschland zum Weingebiet gemacht, Niedersachsen vergibt schon seit 2016 Anbaulizenzen.Im Kreis Vechta selbst haben sich die meisten Felder inzwischen von der jahrzehntelangen Überdüngung mit Schweinegülle erholt. Das Grundwasser ist nicht mehr übermäßig mit Nitrat belastet. Die Verbreitung antibiotikaresistenter Keime, eine weitere Folge der industriellen Tierhaltung, wurde gestoppt. Die früheren Schweinebauern, die Ackerland besitzen, bauen anstelle von Futtermais zunehmend andere Pflanzen an, proteinreiche Erbsen, Soja, Hafer, Lupinen oder Raps, deren Nachfrage durch die vegane Ernährung enorm gestiegen ist. Oder sie lassen großflächig Blühstreifen stehen, für die Artenvielfalt. Auch das wird heute stark mit öffentlichen Geldern gefördert.
Die über 50 Milliarden Euro, die die Europäische Union im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik jedes Jahr an landwirtschaftliche Betriebe auszahlt, fließen seit der Umstellung zum Teil in die Kompensation der Tierhalter und die Umgestaltung der Landschaft. In Zeiten der Nutztiere wuchs allein in der EU auf mehr als 70 Prozent der landwirtschaftlichen Böden Tierfutter, 125 Millionen Hektar, eine Fläche, dreieinhalbmal so groß wie Deutschland (*3). Der Verlust von Energie für die menschliche Ernährung war dabei sehr hoch: Bis zu sieben pflanzliche Kalorien waren nötig, um eine tierische Kalorie zu erzeugen. Für die Produktion seiner Nahrung braucht ein Veganer dreimal weniger Fläche als ein Fleischesser. Viel Raum wurde also frei – ein Großteil davon wurde verwandelt.
Zahlreiche Moorflächen in der Norddeutschen Tiefebene, die man zur landwirtschaftlichen Nutzung vor Generationen trockengelegt hatte, wurden wiedervernässt, als Maßnahme gegen den Klimawandel, denn Moore speichern in ihrem Torf noch viel mehr CO₂ als Wälder. Sie lassen sich auch bewirtschaften: In der Zeitung hast du einen Bericht über einen ehemaligen Rinderhalter gelesen, der auf seinem wiedervernässten Grasland in Mecklenburg-Vorpommern sogenannte Paludikulturen anbaut, dort wachsen nun Erlen, Schilf, Gräser. Die Schilfbiomasse kann der Landwirt als Bau- oder Heizstoff verkaufen. In dem Bericht hieß es, der Energieertrag der Biomasse pro Hektar entspreche mehreren Tausend Litern Heizöl.
Andere Areale sind jetzt völlig menschenfrei. Die Größe der Naturschutzgebiete in der EU hat sich nach dem Ende der Nutztierhaltung verdoppelt. Lässt der Mensch die Natur gewähren, wachsen in Mitteleuropa auf Brachflächen Gräser, dann Büsche, dann Bäume, nach ein-, zweihundert Jahren ist der Laubwald zurückgekehrt. Die Rote Liste gefährdeter Arten ist nur noch halb so lang. Manchen Vogelarten kommt zugute, dass allmählich die Zahl der Hauskatzen abnimmt; noch immer töten die Freigänger allein in Deutschland jedes Jahr Millionen Vögel. Grundsätzlich leben Katzen, genau wie Hunde, inzwischen gut mit veganem Tierfutter. Doch ist es ethisch wirklich schlüssig, Nutztiere abzuschaffen, Haustiere aber, die letztlich auch nur deinen eigenen Bedürfnissen dienen, weiterhin zu züchten und zu halten? In der Gesellschaft dauert diese Debatte bis heute an. Du selbst hast dir, nachdem deine eigene Katze vor einigen Jahren an Altersschwäche gestorben war, keine neue mehr angeschafft. Und so wie du machen es viele.
Du freust dich jetzt, mehr noch als früher, über die Tiere in freier Natur, über Eichhörnchen, Igel, über Schmetterlinge. In den beiden vergangenen Sommern hast du plötzlich Baumweißlinge, Schwalbenschwänze und Bläulinge durch deinen Garten flattern sehen. Überhaupt scheint es wieder mehr Insekten zu geben. Jedenfalls hast du den Eindruck, deine Windschutzscheibe nach Autobahnfahrten im Sommer häufiger putzen zu müssen.
Reservate mit Tiernutzung
Pestizide, die als ein Hauptverursacher des Insektensterbens galten, werden in der konventionellen Landwirtschaft zwar immer noch eingesetzt, aber weniger als früher – auch aus dem einfachen Grund, dass nach dem Wegfall des Futtermittelanbaus gar nicht mehr so viel Fläche beackert werden muss. Außerdem stellen dank EU-Förderung mehr und mehr Bauern auf biovegane Landwirtschaft um, ganz ohne Pestizide. Und statt die Gülle der Nutztiere mit Kunstdünger zu ersetzen, verwenden diese Landwirte zum Beispiel kompostiertes Kleegras. Ein Bauer auf dem Markt hat dir mal erklärt, dass der Boden auch durch solchen Dünger Mineralien zurückbekommt, die Pflanzen zum Wachsen brauchen. Und dann gibt es ja noch den menschlichen Urin.
Die Hauptnährstoffe Stickstoff, Kalium und Phosphor geben auch Menschen ab, früher aber bloß ins Klo. Die Agrarwende stoppte diese Verschwendung: Mittlerweile können bis zu 90 Prozent der im menschlichen Urin gebundenen Mineralien wiedergewonnen und landwirtschaftlich genutzt werden. Besonders begehrt ist dabei Phosphor. Gemäß der novellierten Klärschlammverordnung sind deutsche Städte ab 100.000 Einwohnern dazu verpflichtet, aus dem Abwasserschlamm ihrer Kläranlagen den Phosphor zurückzugewinnen.Öffentliche Toiletten an Bahnhöfen oder Sportstadien wurden zu Urinrecycling-Anlagen umgerüstet, am Marktplatz in deiner Kreisstadt Vechta steht auch so ein Häuschen. 1000 Liter Urin ergeben nach der Aufbereitung bis zu 70 Liter Dünger. Die in Deutschland und der Schweiz entwickelten Verfahren für diese Art der Phosphorgewinnung werden inzwischen in vielen Ackerbauregionen der Erde angewendet, um den Wegfall des tierischen Dungs auszugleichen.
Weltweit hatte es bereits im Jahr 2010 82 Milliarden Nutztiere gegeben, vor allem Schweine, Rinder, Geflügeltiere, Ziegen und Schafe. Über 90 Prozent aller nichtmenschlichen Säugetiere auf der Erde und 70 Prozent aller Vögel lebten nur, um vom Menschen schließlich geschlachtet zu werden (*4). All die Felder und Weiden, die zur Fütterung dieser Nutztiere dienten, ergaben zusammengerechnet eine Fläche, so groß wie Afrika. Fast ein Drittel des weltweiten landwirtschaftlichen Wasserverbrauchs hing mit der Herstellung tierischer Produkte zusammen. Über 14 Prozent aller globalen Treibhausgas-Emissionen waren auf die Tiere selbst oder die Produktion ihrer Futtermittel zurückzuführen (*5); damit verursachte dieser Sektor fünfmal mehr klimaschädliche Emissionen als der gesamte Luftverkehr.
Argentinische Rindersteaks vom Schwarzmarkt
Das Ende der Nutztierhaltung hat 70 Prozent der ernährungsbedingten Treibhausgase eingespart und drei Milliarden Hektar Land freigegeben. Seither wandelt sich das Gesicht des Planeten. Im Fernsehen hast du Dokumentationen gesehen über die Wiederaufforstung von Teilen des brasilianischen Regenwalds und die Renaturierung ehemals intensiv genutzter Viehweiden in den USA. In vielen Gewässern, die früher stark überfischt oder durch Aquafarmen zerstört waren, regenerieren sich Fauna und Flora, zum Beispiel auf den Philippinen, die zwei Drittel ihrer Mangrovenwälder zugunsten von Shrimpzuchten abgeholzt hatten.
Die Ernährung der fast neun Milliarden Menschen auf der Welt ist heute auch ohne tierische Lebensmittel gesichert (*6), allerdings nicht überall gleichermaßen. In manchen weniger entwickelten Ländern drohten mit dem Wegfall der Nutztiere Hungerkatastrophen. Ohne ihre Weidetiere sahen zum Beispiel Nomadenhirten in den kargen Gegenden Asiens oder Afrikas ihre Nahrungsgrundlage schwinden. In bestimmten Regionen wiesen die Vereinten Nationen deshalb Reservate aus, in denen Tiere unter strengen Auflagen auch weiterhin von Menschen genutzt und gegessen werden dürfen, sofern keine vom Aussterben betroffenen Bestände gejagt werden oder das Ökosystem zerstört wird. So erkennt die Weltgemeinschaft das Recht der Inuit auf die Robbenjagd ebenso an wie die Rentiernutzung der Tsaatan in der mongolischen Taiga oder die Rinder- und Ziegenhaltung der Massai in Ostafrika. Die Bewohner der Reservate dürfen Tiere ausschließlich nachhaltig und zur Deckung des Eigenbedarfs nutzen. Der Handel mit tierischen Produkten außerhalb der Sondergebiete ist verboten und mit hohen Strafen belegt. Was nicht bedeutet, dass es ihn nicht gibt. In den Nachrichten hörst du hin und wieder von illegalen Tierställen und Fleischkartellen, die ihre Schmuggelware auch in Deutschland anbieten. Bei einer Razzia in Brandenburg wurden erst im vergangenen Monat 14 Mitglieder eines Schmugglerrings festgenommen. Sie hatten auf dem Berliner Schwarzmarkt argentinische Rindersteaks verkauft, für hohe dreistellige Summen.
Dienst an der Natur
Die sogenannten Nutztiere sind also nicht völlig aus der Welt verschwunden, es gibt sie sogar noch in Deutschland, und zwar ganz legal. In den Küstenregionen halten Schafe wie eh und je das Gras der Deiche kurz und treten mit ihren Hufen die Erde fest. Auch im Allgäu oder in der Rhön grasen auf vielen Wiesen und Weiden weiterhin Pflanzenfresser, um die Kulturlandschaften zu erhalten und mit ihnen die Artenvielfalt. Wiesenvögel wie das Braunkehlchen, Wiesenpflanzen wie der Spitzwegerich, selbst Gänseblümchen könnten verschwinden, würden Weideflächen verbuschen und schließlich verwalden. Viele Arbeitskräfte, die früher in der Tierindustrie ihr Geld verdienten, sind heute Landschaftspfleger und werden zum Beispiel fürs Mähen bezahlt, aber in unwegsamem Gelände, in empfindlichen Habitaten können Tiere es besser. Und so ziehen mancherorts Rinder, Ziegen und Schafe über das Grünland. Immer noch sind es Landwirte, die sie betreuen, immer noch zahlt der Staat Subventionen für ihre Arbeit mit den Tieren, aber es geht nicht mehr um Produkte dabei, nicht um Wolle, nicht um Leder, nicht um Milch und nicht um Fleisch. Vom Menschen werden die Tiere weder gemolken noch zum Verzehr getötet. Alles, was sie leisten, ist ein Dienst an der Natur.
Die Tiere sind meine Mitarbeiter, so sagte es dir die Bäuerin auf dem Hof, wo du mit deiner Tochter letztens Urlaub gemacht hast. Etwa hundert Tiere leben dort, neben Rindern, Ziegen und Schafen auch ein paar Hühner und Schweine. Einige stammen noch aus den großen Nutztierbetrieben, sie wurden gerettet aus der alten Zeit.
Es hatte nicht lange gedauert, bis diese Betriebe zum Erliegen kamen. Im Zuge des Ausstiegs hatte man beschlossen, die vorhandenen Tiere zwar noch zu nutzen, den Zyklus ihrer Produktion aber sofort zu stoppen: Man hörte einfach auf, sie künstlich zu besamen. Schon nach wenigen Wochen versiegte der Nachschub an Masthühnern, nach einem halben Jahr jener an Schlachtschweinen. Von den zwölf Millionen Rindern, 26 Millionen Schweinen und 174 Millionen Geflügeltieren in Deutschland blieben wenige nach festgelegten Quoten übrig. Sie weiden, wühlen und picken nun auf sogenannten Lebenshöfen, zu denen sich einige der landwirtschaftlichen Betriebe wandelten, als Bildungs- und Begegnungsstätten. Schulklassen und Reisegruppen besuchen die Höfe. Und Feriengäste wie du und deine sechsjährige Tochter. Sie mochte besonders die Hausschweine.
Schweine, erklärte euch die Bäuerin, sind reinlich, sozial und hochintelligent. Sie wollen sich befreunden mit anderen Lebewesen, auch mit Menschen. Tatsächlich schien Irma, ein dreizehnjähriges Hausschwein, euch schon nach kurzer Zeit zu kennen. Lief deine Tochter über den Hof, trottete Irma ihr nach. Sie ließ sich kraulen und spielte, wie du es früher nur von Hunden kanntest. Wenn deine Tochter sie rief, hörte Irma auf ihren Namen. Als die Bäuerin eines Tages erzählte, dass die Menschen Tiere wie Irma früher eingesperrt, getötet und gegessen hatten, war deine Tochter fassungslos. Sie konnte es einfach nicht glauben.
Die Frage
Wie sähe eine vegane Welt aus? Das wollte unsere Leserin Christa Wittkämper-Hüppchen wissen. Merlind Theile, selbst Flexitarierin, ließ sich auf das Gedankenexperiment ein: die Vorstellung einer Welt, in der Menschen keine Tiere mehr einpferchen, schlachten, essen. Sogenannte Nutztiere – es gäbe sie nicht mehr.
Die Recherche
Die Forschung zu dieser Frage steckt erst in den Anfängen. Es gibt jedoch Hinweise darauf, welche Auswirkungen ein Wegfall der Nutztiere zum Beispiel auf das Klima haben könnte. Auf die Landflächen, auf unsere Ernährung und Gesundheit. Auf Industrie, Medizin, Kosmetik und Bekleidung.
Das Szenario
Die Autorin hat mit Wissenschaftlern und Praktikern gesprochen, Fachartikel, Dokumentationen und Studien gesichtet (eine kleine Auswahl siehe Fußnoten). Und all die Fallbeispiele, Berechnungen und Modellversuche zu einem Bild zusammengefügt. Einer Utopie, die auf derzeit vorhandenen Erkenntnissen beruht.